Einzigartige Kombination von Eigenschaften und verwendeten Techniken schließt bislang unerforschte Lücke in der Entwicklung des Segelschiffbaus

(Dr. Dirk Rieger, Leiter des Bereichs Archäologie und Denkmalpflege, Bürgermeister Jan Lindenau, Kultursenatorin Monika Frank, Dr. Ingrid Sudhoff, Leiterin der Abteilung Archäologie und Projektleiter Dr. Felix Rösch präsentieren das erste 3D-Modell des versunkenden Hanseschiffs.)

 

Die im Juni 2023 begonnene Ausgrabung des Wracks in der Trave konnte Mitte August fristgerecht beendet werden. Doch nach der Grabung ist vor der Auswertung. Bis in den November hinein wurden insgesamt 540 Schiffsteile und fast 160 Fässer sowie 150 Funde durch die Firma Archcom in Lübeck Schlutup gereinigt, dokumentiert und für die längerfristige Lagerung vorbereitet. Parallel dazu begann die Auswertung durch den Bereich Archäologie und Denkmalpflege in Zusammenarbeit mit Spezialist:innen aus unterschiedlichen Disziplinen. Nach Abschluss der Dokumentationsarbeiten liegen jetzt spektakuläre Befunde zur Bauweise des Hanseschiffs vor. Ein erster 3D-Druck des Wracks visualisiert zudem anschaulich die Bauweise.

Das Hanseschiff – Ein einmaliger Fund

Das Schiff ist nicht nur eines der wenigen archäologisch erforschten Handelsschiffe aus der frühen Neuzeit, sondern in seiner Bauweise bislang einzigartig im Nordeuropäischen Raum. Es vereint die technische Innovation der sogenannten Niederländischen Bodenbauweise – einer Technik die es ermöglicht, kraweel beplankte Fahrzeuge mit hervorragenden Segeleigenschaften zu fertigen – mit einer an die Ostsee angepassten Rumpfform. Das Schiff zählt damit zu einer weiterentwickelten, zweiten Generation von Kraweelschiffen – die Lisa von Lübeck etwa repräsentiert noch die erste Generation. Obwohl sie einen wichtigen Schritt zum modernen Schiffbau darstellen, sind sie bislang kaum erforscht.

(Erstes Wrackteil des Hanseschiffs nach rund 400 Jahren aus der Trave geborgen)

 

Die flachbodige Koggenbautechnik erlaubte nur eine sehr begrenzte Ausgestaltung des Rumpfes während kraweele Rümpfe eine große Variation mit deutlich besseren Segeleigenschaften ermöglichten. Gleichzeitig sparte man Baumaterial. Um nun mit dem Wissen aus dem Koggenbau diese neue Art von Rümpfen anfertigen zu können, bediente man sich einer Reihe von Innovationen, die es ermöglichten die Rumpfschale im Bauprozess auszugestalten und damit das für die Segeleigenschaften so wichtige Unterwasserschiff zu fertigen. Um die auf Stoß liegenden Planken aneinander zu befestigen, wurden Hilfskonstruktionen in Form von Klammern und Stützen verwendet.

Spuren dieser Hilfskonstruktionen konnten in Form verdübelter Nagellöcher, sogenannter Spijkerpennen und vordefinierter Winkel im Rumpf eindeutig identifiziert werden. Diese Technik taucht zuerst im 16. Jahrhundert in den Niederlanden auf und wird daher als Niederländische Bodenbauweise bezeichnet. Sie ermöglichte die Übernahme des Kraweelschiffbaus auch ohne studierte Schiffsbaumeister, die mathematische Vorberechnungen und zeichnerische Planung beherrschten. Im Gegensatz zu den niederländischen Schiffen, die flachbodig gebaut waren, um bei Ebbe in der Nordsee trockenfallen zu können, besitzt das Hanseschiff jedoch einen ausgezogenen Kiel, der bessere Segeleigenschaften in der Ostsee verhieß. Diese Kombination von Eigenschaften und verwendeten Techniken macht das Schiff so einzigartig. Es ist dazu angehalten, eine bislang unerforschte und bekannte Lücke in der Entwicklung des Segelschiffbaus hin zum modernen Schiff zu schließen. Dadurch reicht die Bedeutung des Fundes aus der Trave weit über die Grenzen Lübecks und Norddeutschlands hinaus.

„Das Hanseschiff ist ein Geschenk der Geschichte für Lübeck – aber auch eine große Verantwortung. Ich danke allen Expert:innen und Beteiligten für die hervorragende Kooperation, die schnelle und sichere Bergung und die fantastischen ersten Ergebnisse“, erklärt Bürgermeister Jan Lindenau.

Die verwendeten Hölzer sind eindeutig nach ökonomischen und weniger nach ästhetischen Gesichtspunkten ausgewählt. Da wo Stabilität gefordert war, etwa bei den äußeren Planken und beim Schiffsskelett, wurde Eiche verwendet. Dabei wurden auch kürzere und krumm gewachsene Äste als Spanten verbaut oder mal eine Planke aus einzelnen Teilen zusammengesetzt. Hölzer wurden nur da bearbeitet, wo es notwendig war. Störte ein Astloch, wurde das entsprechende Stück auch schon mal herausgesägt und durch einen Flicken ersetzt. Im Inneren des Schiffes, etwa bei Kajüten und Decksplanken, kam vor allem Kiefer zum Einsatz. Wie auch heute noch, war Nadelholz deutlich preiswerter als die robustere aber deutlich langsamer wachsende Eiche. Auch kürzere Holzstücke konnten deutlich günstiger bezogen werden als lange und gerade Stücke.

(Hanseschiff: 3D-Scan)

 

„Ein solcher Wrackfund besteht aus hunderten von Einzelteilen, die allesamt ihre eigene Geschichte erzählen und die Puzzleteile einer historischen Epoche sind, die noch heute eine großartige und unbändige Strahlkraft ausüben“, findet Kultursenatorin Monika Frank.

Ein Schiff aus Lübeck

Je weiter die Forschung voranschreitet, desto mehr verdichten sich die Hinweise, dass das Hanseschiff nicht nur vor den Toren Lübecks gesunken ist, sondern auch hier gebaut worden sein könnte. Es wäre damit das erste archäologisch untersuchte Schiffswrack, das nachweislich in Lübeck gebaut wurde. Obwohl in der frühen Neuzeit fast 10.000 Schiffe in den Hansestädten der südlichen Ostseeküste entstanden sind, ist über diese Schiffe so gut wie nichts bekannt. Das Hanseschiff aus der Trave bringt somit Licht ins Dunkel und bringt die Erforschung des Schiffsbaus in Nordeuropa entscheidend voran.

Folgende Informationen sprechen für eine Herkunft aus Lübeck:

· Unter den bisher untersuchten Eichenhölzern konnte für zwei Spantteile die Herkunft aus dem norddeutschen Raum ausgemacht werden. Alle anderen Eichenhölzer haben ihre Wachstumsregion allerdings noch nicht offenbart.

· An Bord befand sich außerdem eine Ladung Buchenholzscheite, die wahrscheinlich als Brennholz dienten. Sie stammen aus der Region Lauenburg und damit dem Ausgangspunkt des Stecknitzkanals, der Lübeck mit der Elbe verband.

· Außerdem wurde ein Grapen, ein dreibeiniger Kochtopf, an Bord des Wracks gefunden. Dieses Gefäß ist wie viele Exemplare ausgeformt, die vor einigen Jahren bei der Ausgrabung einer frühneuzeitlichen Töpferei in der Lübecker Dankwartsgrube gefunden wurden. Eine Produktion in Lübeck liegt damit nahe.

Auch das Schiff selbst besitzt noch einen Bezug zu Lübeck. Bis heute finden sich an den Rümpfen aller größeren Schiffe sogenannte Tiefgangsmarken. An ihnen lässt sich ablesen, welchen Tiefgang das Schiff abhängig von der Ladung gerade hat. Im Zuge der Auswertung des Hanseschiffs konnten vier in einer horizontalen Reihe eingekerbte Punkte auf der Backbordseite des Achterstevens identifiziert werden. Diese befinden sich exakt vier Lübecker Fuß (1 Fuß = 0,28762 cm) über der Unterseite des Kiels, womit ein deutlicher Bezug zu dem in Lübeck zur Bauzeit des Schiffes verwendeten Maßsystem vorliegt. Damit verdichten sich die Hinweise, dass das Hanseschiff vor etwa 400 Jahren, in der Mitte des 17. Jahrhunderts sogar in Lübeck gefertigt sein könnte.

Trotz der ökonomischen und hoch funktionalen Bauweise des Schiffes wurde nicht auf einen gewissen Komfort und Luxus verzichtet. Aus dem Bereich des Hecks, wo Kapitänskajüte oder die Unterkunft eines wohlhabenden Reisenden zu verorten sind, stammen mehrere Fragmente von Fensterglas. Im 17. Jahrhundert war Fensterglas auf Schiffen noch äußert selten und eigentlich den Räumlichkeiten von Kriegsschiffkommandanten vorbehalten. Weiterhin wurde an Bord des Hanseschiffs nachweislich Wein und Schnaps, Rum oder Branntwein, aus wertvollen Glasflaschen konsumiert.

„Die Auswertung des Hanseschiffs, die ja noch am Anfang steht, übertrifft schon jetzt alle meine Erwartungen. Die sensationellen Ergebnisse werden wesentlich zur Erforschung des vormodernen Schiffbaus beitragen“, sagt Dr. Felix Rösch, Unterwasserarchäologe und Koordinator der Wrackbergung.

Geschichtlicher Hintergrund

Im Gegensatz zur landläufig verbreiteten Meinung befand sich Lübeck im 17. Jahrhundert trotz des Bedeutungsverlustes der Hanse (letzter Hansetag 1669) ökonomisch nicht auf dem absteigenden Ast. Im Gegenteil: die Wirtschaft florierte und Lübecks Kaufleute spielten nach wie vor eine gewichtige Rolle im Ostseehandel. Im Gegensatz zum Mittelalter waren Lübeck und die Hanse jedoch nur noch ein Akteur unter vielen, während Städte wie Hamburg durch ihren Zugang zur Nordsee und dem Überseehandel deutlich schneller wuchsen.

Das Hanseschiff – ein Abbild hansischer Tugenden

Der Schiffsfund aus der Trave kann geradezu als mobiles Abbild der Hansestadt bezeichnet werden. Ökonomisch gebaut, auf merkantile Zwecke ausgerichtet, lokale wie externe Innovationen auf sich vereinend, dazu einen Schuss Luxus und Repräsentation – und nicht zuletzt voll beladen mit einem Baustoff, der die eindrucksvolle Altstadt Lübecks, das UNESCO Weltkulturerbe, bis heute buchstäblich zusammenhält. Kein anderes Fahrzeug könnte die Stadt wohl besser repräsentieren als das Hanseschiff.

 

Quelle:

Text & Fotos: PM Hansestadt Lübeck