Stationsleiterin Bärbel Reichelt berichtet über die vor allem für philippinische Seeleute prekäre Corona-Lage an Lübecks Kaikanten und einen neuen Online-Chat
Die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie machen Druck auf Herz und Hirn der Seeleute – auch in Lübeck. Die Crews der Schiffe, die die Kais entlang der Trave anlaufen, sind meist gemischt. Niederländer, Russen, Esten, Letten, Schweden, Philippinos und weitere Nationalitäten arbeiten an Bord eng zusammen. Wechsel für die europäischen Crewmitglieder sind schwierig, nicht aber komplett unmöglich. Anders bei den Philippinos.
Erschöpft nach 70 Arbeitsstunden pro Woche
„Immer mehr von ihnen kommen nach Ende ihrer oft neunmonatigen Verträge nicht mehr nach Hause“, weiß Bärbel Reichelt, Leiterin der Deutschen Seemannsmission in Lübeck. „Sie hängen an Bord fest, müssen weiterarbeiten. Viele sind erschöpft und kommen auf 70 Arbeitsstunden pro Woche, manchmal ohne freien Tag. Sie hatten sich auf Familie und Freunde gefreut und nun: aussichtslos.“
Erfrischung des Geistes fällt weg
Belastend für alle Crewmitglieder kommt hinzu, dass sie seit Mitte März die Schiffe im Hafen nicht mehr verlassen dürfen. „Auf einem Schiff von 100 Metern Länge gibt es vor allem Laderaum. Der kleine Rest kann für die acht Mann Besatzung ziemlich eng werden“, erklärt Reichelt. „Dabei ist gerade der Landgang für Seeleute so wichtig: ein bisschen Grün, etwas Einkaufen oder Radfahren. Ein Stück Normalität außerhalb von Stahl, Lärm und Arbeit. ’I must refresh my mind’, sagen Seeleute oft. Diese Erfrischung des Geistes fällt nun weg – das macht Druck.“
Neuer Online-Chat für festsitzende Seeleute
Druck, der irgendwo hin muss. Deshalb versucht die Seemannsmission trotz aller Abstandsregeln für die Seeleute da zu sein. „Ein Besuch an Bord ist nicht möglich, aber manchmal reicht schon das Signal über die Kaikante ‚Wir haben euch nicht vergessen‘“, berichtet die Theologin. Zudem ist die Seemannsmission in Lübeck über Telefon, WhatsApp und E-Mail für Sorgen und Nöte der Seeleute erreichbar und hat für sie mit „DSM Care“ einen neuen Online-Chat eingerichtet.
(Selfie, aber natürlich mit Sicherheitsabstand zur Crew: Bärbel Reichelt (50) leitet als studierte Theologin seit 2017 die Lübecker Station der Deutschen Seemannsmission. Quelle: PRIVAT/HFR)
„Kommunikation mit Familie ist das Wichtigste“
Auch andere Beteiligte im Hafen und an Bord versuchen, die Crews zu unterstützen. Da gibt es Kapitäne, die ihre Besatzung auch einmal über Satellit telefonieren lassen, oder die Datenmengen an Bord für jeden einzelnen Seemann wurden erhöht. „Die Kommunikation mit Familie und Freunden zu Hause und das Checken der Nachrichtenlage sind für die Seeleute derzeit das Wichtigste“, weiß die 50-Jährige.
Seemannsmission hält Seeleute für systemrelevant
90 Prozent aller Güter werden übers Meer transportiert – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Dank Corona rücken die Seeleute nun stärker in den Fokus. „Von vielen Seiten wird gefordert, auch die Seeleute als systemrelevant anzuerkennen. Die Deutsche Seemannsmission unterstützt dies“, stellt Reichelt klar.
Quelle: LN/ rln/dsm