Kapitän ist zwölf Jahre immer nur an M-V vorbeigefahren
Von Dr. Peer Schmidt-Walther
Ende August wurde der niederländische Kapitän Arnoud Tempelman life auf der Brücke seines RoRo-Frachters GENCA vom NDR interviewt, als der 30.000-Tonner die berüchtigte Kadetrinne querab Rostock passierte und er über die Besonderheiten und Gefahren dieser stark befahrenen Meeresstraße berichtete.
Wöchentlich zwei Mal manövriert er den 205-Meter-Koloss durch das Nadelöhr, wenn er von Lübeck aus mit LKW-Trailern, Containern und Zeitungspapier-Rollen, u.a. auch für die ZAS, hin und zurück ins finnische Hanko, nach Russland, Estland und Polen dampft. „Seit der Indienststellung 2007“, so rechnet der 59-Jährige vor, „bin ich hier über 1200 Mal bei Tag und Nacht, Wind und Wetter durchgefahren und kenne die Strecke fast schon im Schlaf“.
Was er jedoch nicht kennt, das ist die angrenzende mecklenburgisch-vorpommersche Küste, von der er allenfalls einen dunklen Strich oder die Leuchtfeuer Darß, Hiddensee und Arkona sieht.
Und das machte ihn neugierig wie schon in den anderen Ländern, die er im Sommer mit seiner Honda während der Liegezeiten erkundet, wenn es denn seine Zeit erlaubt.
(Kapitän Arnoud Tempelmann mit Honda vor seinem Schiff in Hanko)
Meck-Pomm-Premiere
Bevor er am vergangenen Wochenende – nach sechs Wochen Urlaub bei Frau und Tochter in der heimatlichen altehrwürdigen Hansestadt Deventer – zur nächsten Sechs-Wochen-Schicht an Bord aufbrach, wollte er es wissen, wie es „dahinter“ aussieht. Mit seinem Auto steuerte er zunächst Wismar, am Nachmittag dann für ein paar Stunden Stralsund an und damit zum ersten Mal Mecklenburg-Vorpommern.
Der Autor dieses Beitrages – man ist seit Jahren befreundet – hatte ihn eingeladen zu einem Stadtrundgang nach Kaffee und Kuchen im Heilgeistkloster.
Die Anfahrt über die zu dieser Zeit ruhige A 20 sei schon ein Erlebnis für ihn gewesen. „Hab mich gefreut, dass, wie ich gehört habe, ein holländisches Unternehmen die provisorische Brücke gebaut hat“, grinst er, „und wir euch dabei helfen konnten, dass es damit endlich voran geht“.
Das „gemütliche“ Heilgeistkloster mit seinen schönen Häusern und Gassen samt seiner Geschichte fasziniert ihn, mehr noch anschließend der Hafen, klar. Die beiden zu der Zeit noch aufliegenden Versorgungsschiffe für die Gaspipeline Nordstream II identifiziert er als niederländische, „trotz ihrer norwegischen Flagge. Die gehören zur Delfter Allseas Reederei, die auch das größte Schiff der Welt hat, nämlich das Offshore-Arbeitsschiff ´Pioneering Spirit` mit über 400.000 Tonnen und 128.000 PS“.
GORCH FOCK-Lektion
Von der Steinernen Fischbrücke an der Alten Lotsenwache vorbei ist es ein Katzensprung rüber ins Ozeaneum – geradezu ein Muss für den Seefahrer. Hier erfährt er, welche Tiere unter dem Kiel seines Frachters schwimmen, wenn er die Ostsee durchpflügt.
Die maritime Meile wird – natürlich – fortgesetzt zum zweiten Hafen-Highlight, der GORCH FOCK (I). „Ist das nicht Euer Marine-Skandalschiff?“, fragt Arnoud Tempelman ungläubig? Und wird gleich korrigiert, dass es „nur“ die historische Schwester von 1933 sei. Ein Gang an Bord muss sein. Der Vorsitzendes des Eignervereins, Wulf Marquard, begrüßt den Gast und sprudelt geradezu über im Eifer, die jüngste Entwicklung um die Bark aus seiner Sicht darzustellen. Ob es die neuen Stage sind, die Kabineneinbauten, stockende Kauf-Verhandlungen mit der Hansestadt oder der geplante Werftaufenthalt mit der Erneuerung des unteren Rumpfes. „Für 15 Millionen Euro“, schüttelt er den Kopf, „ist sogar die ALERXANDER VON HUMBOLDT II` komplett neu gebaut worden, da kommen wir mit viel weniger aus!“ Seine Vision, den Dreimaster eines Tages wieder unter Segel zu bringen, gibt er nicht auf: „Dafür werde ich kämpfen!“ Marquard drückt dem Kapitän zum Abschied ein auf Niederländisch verfasstes Info-Blatt in die Hand, das es sogar auf Chinesisch und Arabisch gibt.
Dèja-vue-Erlebnis
„Zur Fähre“, eine der ältesten Kneipen Europas seit 1332, ist leider geschlossen. Es muss ein Blick durch die Fenster genügen, „andererseits“, gibt Arnoud zu bedenken, „wären wir da auch nicht so schnell wieder rausgekommen…“ Ein paar Häuser weiter in der Fährstraße kurze Erinnerungsworte für Ferdinand von Schill; aus der „Scheelehof“-Manufaktur weht Kaffee-Duft – Niederländer lieben ihren kopje koffie – und ein Blick auf die erlesene Speisekarte. Erfreulicherweise auch mit seemännischem Labskaus, wobei uns das Wasser im Munde zusammenläuft; schließlich Romantik pur im Johanniskloster; danach Alter Markt – die Rathaus-Fassade ist ein „Dèja-vue-Erlebnis“ für den Kapitän mit Ehrenmitgliedschaft als einziger ausländischer Kapitän in der Lübecker Schiffergesellschaft; durch den Rathausgang vorbei am schwedischen König Karl XII und GORCH FOCK (I)-Modell-Besuch im Foyer; Einkaufstrubel in der Fußgängerzone und Abschluss mit „kopje koffie“ zum Aufwärmen im Heilgeistkloster.
Das Treffen mit dem Stralsunder Marinemaler Thomas Quatsling, dessen GENCA-Bild im Schiffsbüro neben dem niederländischen Königspaar hängt, wird auf den nächsten Sund-Besuch verschoben. „Jetzt weiß ich auch, was ich all die Jahre verpasst habe“, strahlt Kapitän Tempelman, der über die A 20 wieder sein Schiff – das übrigens ein echter Pommer ist, weil, in entgegengesetzter Richtung, auf der ehemaligen Vulkan-Werft in Stettin gebaut – mit Kurs Lübeck ansteuert .
Zwei Kapitäne: einer mit, einer ohne Schiff
Außergewöhnliche Begegnung am Seelandkai in Siems
„Heckklappe dicht!“, gibt Arnoud Tempelman noch am selben Abend um 22.00 Uhr per UKW-Sprechfunk die Anweisung an seinen Ersten Offizier Andrej. Wie jede Woche zwei Mal. Nachdem der letzte LKW auf dem riesigen Hauptdeck eingeparkt und jeder Stellplatz belegt ist, läuft die Uhr.
(Kapitän Tempelmann beim Auslaufmanöver in Hanko)
Schließlich fährt MS GENCA, ein ConRo-Frachter (für Container und rollende Ladung), nach Fahrplan, da zählt fast jede Minute. Kapitän Tempelman schaut auf die Uhr und durch die Brückenfenster. Über den Stadtteil an der Trave fegt ein stürmischer Wind, dem die „Genca“ ihre schneeweiße 4000 Quadratmeter-Backbordflanke mit den riesigen Lettern TRANSFENNICA entgegen stemmt. „Mehr als jeder Großsegler hat“, ist Tempelman besorgt über das bevorstehende Ablegemanöver des 30.000-Tonners. „Bei so viel Gegendruck kann manchmal schon ein Schlepper notwendig werden“.
Trave schäumt
Bullernd und grummeld springen die beiden Diesel an, die es auf zusammen 34.262 PS bringen. Aus dem mächtigen Schornstein quellen haushohe Wolken, keine schwarzen wie früher. Das ist der neuen Scrubber-Rauchgaswäsche-Reinigungsanlage geschuldet, die weitgehend Schwefel, Ruß und Kohlendioxyd zurückhält. So wollen es die Vorschriften über die Luftreinhaltung. Dazu und über die berüchtigte Kadetrinne zwischen Rostock und Gedser ist er als Fachmann kürzlich drei Mal im NDR aufgetreten. Tempelman – bekannt im ganzen Land!
Von unten sind jetzt Schritte zu hören, bis ein junger Mann in gelber Sicherheitsjacke mit Leuchtstreifen die weitläufige, nach Kaffee duftende, dunkle Brücke mit ihren leuchtenden Monitoren betritt: „Moin!“, ruft er in die Runde, die aus Kapitän Wachoffizier, Rudergänger und Ausguck besteht. „Ein Fahrstuhl wär hier schon angebracht“, findet er keuchend nach einem langen Weg durchs rund 30 Meter hohe Treppenhaus, fragt aber sofort nach dem Tiefgang. Nach der knappen Antwort „Sieben Meter“ folgt die eigentliche Begrüßung: „Hallo Heiko, Du?“ „Moin noch mal, Arnoud, ja ich bin heute Abend dran!“ Lotse Heiko Wulff (47), seit 2007 Mitglied der Brüderschaft NOK II und zuvor jahrelang Kapitän, packt sein Tablet aus und ruft die Trave-Seekarte mit den zu steuernden Kursen und Wegpunkten auf. „Na, dann wollen wir mal!“, ruft der Kapitän aus der Brückennock „Klar vorn und achtern!“. Die Leinen klatschen ins Wasser. Tempelman bewegt den Joystick fast zart mit zwei Fingern so, dass GENCA sich im Zeitlupentempo von der Pier abdrückt. Die beiden zusammen 3400 PS leistenden Bugstrahlruder helfen kräftig mit. Die Trave schäumt gequirlt, und in den aufgewühlten Schlamm stürzen sich Dutzende von Möwen.
(Lotse Heiko Wulff steht auf der Brücke beratend zur Seite)
Geld gespart
Wulff und Tempelman haben inzwischen ihre bequemen Steuersessel eingenommen. In Schleichfahrt lässt der Frachter Seeland- und Lehmannkai achteraus, fädelt in die schmale, von blinkenden Tonnen markierte Fahrrinne ein. „GENCA weiß nach zwölf Jahren in diesem Fahrtgebiet scheinbar schon ganz allein, wo es langgeht“, grinst Kapitän Arnould Tempelman. Der 59-Jährige aus der niederländischen Hansestadt Deventer fährt schon seit 36 Jahren für die Amsterdamer Groß-Reederei Spliethoff und das Schiff seit seiner Indienstellung 2007. Er könnte als verantwortlicher Schiffsführer ohne weiteres die Ruderkommandos geben, darf es aber nicht, obwohl schon rund 1200 Mal auf der Trave ein- und ausgelaufen ist. Der Lotse ist nur sein Berater. Passiert etwas, wird aber der Kapitän belangt. „Die Befahrensvorschriften“, erklärt er, „lehnen hier eine Befreiung bei so großen Schiffen ab“. Der finnische Ziel-Hafen Hanko indes lässt ihn nach vielen gelotsten Fahrten und einer Prüfung allein fahren: „Damit spare ich Geld für die Reederei und verdiene auch daran mit einer Prämie“.
Nach ein paar scharfen Kursänderungen – zum Glück kommt an einer breiteren Stelle nur ein kleiner Küstenfrachter entgegen – verläuft der Kurs zwischen Herrenwyk und Dummersdorfer Ufer relativ gerade. Die beiden Männer kommen ins Gespräch. Sie kennen sich von der Schiffergesellschaft. Wie Tempelman da hineingekommen sei? „Ganz einfach“, lacht er, „über eine Einladung zum Bier durch den Trave-Lotsen Rüdiger Pfaff“. Die Schiffergesellschaft zu Lübeck bestehe seit der Hansezeit im Jahre 1401. Mitglieder sind fahrende Kapitäne mit Wohnsitz in und um Lübeck. „Heute bin ich in der 42-köpfigen Gesellschaft einer der wenigen noch zur See fahrenden Kapitäne“, gesteht er, „und meine Heimatstadt gehörte zur Hanse und liegt damit im Umkreis` von Lübeck. Holland gehört eben dazu!“ Er sei außerdem der einzige ausländische Schifferbruder und damit „etwas Besonderes“ in dem erlauchten maritimen Traditionszirkel. Die Satzung wurde – gegen einige kritische Stimmen – dahingehend geändert, so dass auch Mitglied fahrende Kapitäne aus den Anrainer-Staaten von Nord- und Ostsee werden können.
Klassischer Weg
Als Prinz Charles 2002 die Schiffergesellschaft besuchte und fragte, ob er Mitglied werden könne, wurde höflich, aber bestimmt abgelehnt. Da spielte sein Admiralsrang in der Royal Navy keine Rolle. Er habe leider kein großes Patent.
Die meisten seien heute Lotsen – auch „Kapitäne ohne Schiff“ genannt – und Pensionäre. Durch ihre Beiträge werde das altehrwürdige weithin als renommierte Gaststätte bekannte Haus in der Breite Straße 2 baulich unterhalten, wo man sich jeden Dienstag zwischen 17 und 19 Uhr trifft. Einmal auch schon an Bord der GENCA, „um den älteren Kollegen mal moderne Seefahrt zu zeigen“, ergänzt Arnoud Tempelman, der seit 24 Jahren Kapitän ist. Als einer der jüngsten Niederländer wurde er dazu ernannt. Darauf ist er stolz. Schon mit elf Jahren kam er durch Vaters Motoyacht mit der Seefahrt in Kontakt, sollte das Bekleidungsgeschäft übernehmen – „das war nix für mich!“ – und beschritt in Rekordzeit motiviert und zielstrebig den klassischen Weg vom Decksjungen zum Kapitän. Zu guter Letzt lernte er seine Frau Ingrid an Bord kennen, die bei ihm als Funkerin fuhr und seit 38 Jahren das Eheschiff führt.
Wulf, der selbst aus einer alten Kapitäns- und Lotsenfamilie stammt, schätzt den Austausch ebenso wie Tempelman, der von der Historie der – auch – sozialen Einrichtung begeistert ist. Ab dem 65. Lebensjahr gebe es sogar eine kleine Rente aus dem Vereins-Topf, und in zehn Wohnungen im Anbau leben Kapitänswitwen mietfrei.
Nach knapp zwei Stunden kommt das Travemünder Lotsenversetzboot längsseits. „Tschüß und gute Reise!“, wünscht Heiko Wulff, Arnoud Tempelman antwortet mit „Schöne Weihnachten und guten Rutsch!“. GENCA stiebt mit 18,6 Knoten nach Norden, um wieder Zeitungspapierrollen für zu laden, PILOT „Stein“ zurück zum Anleger hinter der Mole. Dann schluckt beide Schiffe allmählich das Dunkel der Lübecker Bucht.
(Papierrollen im Hafen von Hanko)
Infos MS GENCA:
Bauwerft: Stocznia Szczecinska Nowa S.A. (SSN), Szczecin/Stettin, Polen; Baujahr: 2007; Indienststellung: 26.05.2007; Typ: ConRo „B-201-11“; Schwesterschiffe: „Timca“, „Kraftca“, „Plyca“, „Trica“, Pulpca“; Reederei: Spliethoff´s Bevrachtingskantoor B.V., Amsterdam; BRZ: 28.289; Displacement: 31.105 Tonnen; Länge: 205 m; Breite: 25.50 m; Tiefgang (max.): 8,50 m; Höhe: 46,3 m; Lademeter: 2900 m; Container-Kapazität: 640 TEU; Eisklasse: 1 A Super; Hauptmaschinen: 2 x Wärtsilä 12 V46C zu je 12.600 kW (ausgerüstet mit Scrubber zur Abgasreinigung); Tagesverbrauch (bei Öko-Speed mit 75 % Auslastung): rund 60 Tonnen schwefelreduziertes Schweröl; Geschwindigkeit (max.): 23,5 kn; Bugstrahlruder: 2 x 1250 kW; Propeller: 2 x Verstellpropeller (6,20 m Durchmesser); Ruder: 2 x Hochleistungsruder; Stabilisatoren: 2 x (6,5 x 1 m); Crew: 21; LKW-Fahrer: 12; Rufzeichen: PHKD; IMO-Nr.: 9307372;
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